Die neun Eskalationsstufen (Teil 1)

23 Oct 2019 22:16 Von Philipp Karch

Stefan labert und labert und labert

Du sitzt – mal wieder – im Meeting. Eine Welt ohne Besprechungen, denkst du dir manchmal, das wäre was Feines. Dann könntest du ja mal richtig arbeiten. Aber nein, die Firma hat entschieden: Regelmäßiger Austausch im Team ist wichtig und richtig. Heute also das neunte Meeting der Woche, und Kollege Stefan ist mal wieder in Höchstform: Dieses Hölzchen und jenes Stöckchen, einmal von vorn, einmal von hinten betrachtet und am Ende noch ein kleines Schleifchen drum herum. Redundanz hoch drei. Und niemand sagt was. Effektivität geht anders, Effizienz auch. Der Typ klaut dir deine Zeit. Er spricht in dein Ohr, was dein Ohr nicht hören will: Nebensächliches, Kleinteiliges, Verwirrendes.

Du würdest am liebsten auf den Tisch hauen

Es kotzt dich an. Ja, es kotzt dich richtig an. Am liebsten würdest du mit der Faust auf den Tisch hauen. Aber das tust du natürlich nicht. Du hast Angst vor den beruflichen Konsequenzen. Logisch. Doch auch deine Untätigkeit hat Folgen: Sie lässt deinen Ärger kontinuierlich ansteigen. So weit, dass du glaubst jeden Moment vor Wut zu platzen. Kollege Stefan hat davon natürlich keine Ahnung und redet und redet, dass es dich geradezu körperlich schmerzt. »Lange wird das nicht mehr gut gehen«, sagst du dir. – Da endlich: die ersehnte Pause. 

Dann halt lästern

Du ergreifst sofort die Gelegenheit für ein privates Gespräch mit Nora. Sie denkt ähnlich über Stefan, das weißt du genau. Und schon geht‘s los. Du lästerst, was das Zeug hält, und sie nickt und feuert dich an. Du spürst Freude und Erleichterung, denn geteiltes Leid ist halbes Leid. Du genießt die gemeinsame Hetze gegen den abwesenden Kollegen, auch wenn du vielleicht ganz leise so etwas wie Scham spürst. Trotzdem: Jetzt gerade tut es einfach gut und musste sein. Lästern als Ärger-Entladung. Was ist schon dabei? Doch dann die nächste Woche, das nächste Meeting. Stefan gibt wie immer alles. Und du verwandelst dich erneut in Darth Vader, suchst den Blick von Nora, hoffst auf Entlastung. Jedes Mal das gleiche Spiel.

Lästern langweilt dich? Einfach die Dosis erhöhen!

Irgendwann hast du genug. Es kickt dich nicht mehr. Das bloße Lästern kann dich nicht mehr entlasten. Steigst du aus? – Nein, im Gegenteil: Du brauchst mehr. Wie ein Junkie, der die Dosis erhöhen muss, eskalierst du, ohne es zu merken. Eben noch im Stillen mit der Kollegin gelästert, beginnst du nun mit dem Bloßstellen. Denn jetzt möchtest du Stefan kränken. Und zwar vor allen. Also endlich raus damit in der Teamsitzung, was bisher nur Nora hören durfte: »Sag mal, Stefan, wirst du hier eigentlich nach der Länge deiner Redebeiträge bezahlt?« 

Und damit hast du den Konflikt von Stufe 4 auf Stufe 5 angehoben. Bei insgesamt neun Eskalationsstufen ist das schon ganz beträchtlich. Was auf den einzelnen Stufen passiert und warum es wichtig ist, die innewohnende Dynamik von Konflikten zu kennen, erfährst du in den nächsten Zeilen.

Von der Verhärtung am Anfang zum gemeinsamen Untergang am Ende

Was sind Eskalationsstufen? Nach der Theorie des Organisations- und Konfliktforschers Friedrich Glasl, können Konflikte bis zu neun Eskalationsstufen durchlaufen (Glasl 2002). Was als Verhärtung oft unbemerkt beginnt, kann sich so weit steigern, bis schließlich alle Beteiligten gemeinsam in den Abgrund stürzen. Aus einer harmlosen Interessenkollision kann ein handfester Krieg werden, den die Beteiligten bis zur Vernichtung des Gegenübers zu betreiben suchen. Diese typischerweise in jedem Konflikt lauernde Dynamik ist auch mit ein Grund dafür, warum geschäftliche wie private Partnerschaften scheitern, obgleich dieses zu Beginn der Auseinandersetzungen von keiner Seite gewollt worden ist. Wie es dazu kommt, zeigt der nächste Abschnitt.

Die 9 Eskalationsstufen im Überblick

Stufe 1: Verhärtung

Aufeinanderprallen unterschiedlicher Meinungen oder Verhaltensweisen. (Beispiel: Andrea bemerkt, dass Nandor nicht (mehr) grüßt oder E-Mails nicht mehr weiterleitet.)

Stufe 2: Debatte und Polemik

Sichtbarwerden des Konflikts (offene Streits). (Beispiel: Bettina: »Was fällt dir ein?«; Markus: »Stell dich nicht so an!«)

Stufe 3: Taten statt Worte

Rückzug der Beteiligten, die ihr Ding durchziehen, ohne miteinander zu reden. (Beispiel: Bernd verschränkt die Arme und beschließt, nichts mehr zu sagen. Edda verlässt daraufhin lautstark den Raum.)

Stufe 4: Sorge um Image und Koalition

Suche nach Verbündeten und Hineinziehen von Dritten (Allianzen). (Beispiel: Thorsten beschwert sich über Annika beim Schulleiter; Annika über Thorsten beim Elternabend.)

Stufe 5: Gesichtsverlust

(Öffentliches) Bloßstellen der Gegenseite durch Übergriffe aller Art (Vorwürfe, Provokationen etc.). (Beispiel: Toni schaut demonstrativ auf die Uhr, als Mona zu spät zur Besprechung eintrifft. Mona ahmt Tonis verlegenen Gesichtsausdruck nach.)

Stufe 6: Drohstrategien

Drohungen mit drastischen Konsequenzen. (Beispiel: Walter kündigt an, nicht mehr an Meetings teilzunehmen, wenn Evi ihn noch einmal unterbricht; Evi droht an, sich beim Personalrat über Walter wegen Mobbing zu beschweren.)

Stufe 7: Begrenzte Vernichtungsschläge

Erste Zerstörungsaktionen zur Ausschaltung des anderen. (Beispiel: Jenny klaut oder löscht Unterrichtsmaterialien von Christian; Christian schlitzt die Reifen von Jennys Auto auf.)

Stufe 8: Zersplitterung

Vernichtungsaktionen, um die Gegenpartei zu erledigen. (Beispiel: Aneta sendet Drohbriefe an Klaus und macht Telefonterror.)

Stufe 9: Gemeinsam in den Abgrund

Finale Vernichtungsschläge – auch zum Preis der Selbstvernichtung. (Beispiel: Die Beteiligten führen lange, teure Gerichtsprozesse.)

Fazit & Ausblick

Bei seiner Untersuchung von Konfliktdynamiken hat Glasl folgende grundlegenden Dynamiken beobachtet:

  • Konflikte haben die Tendenz zu eskalieren (von 1 nach 9).
  • Nicht alle Konflikte durchlaufen alle Phasen, und nicht alle Phasen sind immer voneinander trennbar.
  • Elemente der früheren Phasen können auch in späteren Phasen auftauchen. Beteiligte Parteien können sich auf unterschiedlichen Ebenen befinden.
  • Je weiter der Konflikt eskaliert, desto schwieriger ist es, ihn zu lösen (Stufen 1 bis 3: win-win; Stufen 4 bis 6: win-lose; Stufen 7 bis 9: lose-lose)

Wenn du dir das Durchlaufen aller neun Stufen an einem konkreten Beispiel betrachten möchtest und gerne Filme schaust, dann empfehle ich dir die Beziehungsdramen Der Rosenkrieg und Gott des Gemetzels.

HÖRBUCH

Du würdest dir das Ganze gerne noch einmal anhören? Dann geht's hier zum Hörbuch:

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  • 04_Kap4.3_9EskStufen
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Was das Wissen um die neun Eskalationsstufen für die Praxis bedeuten kann, erfährst du in Kürze im nächsten Blogbeitrag.

Liebe Grüße

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